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FG Münster v. 19.4.2024 - 4 K 870/21 E

Kann sich ein Dritter auf die fehlende Bekanntgabe eines Steuerbescheides berufen?

Allein die ordnungsgemäße Absendung des Bescheides durch das Finanzamt am 23.10.2017 konnte nicht zur Überzeugung des Senats vom tatsächlichen Zugang führen. Soweit die kurz nach dem Versand des Bescheides erfolgte Überweisung des Erstattungsbetrags als Indiz für den tatsächlichen Zugang des Einkommensteuerbescheides 2016 dienen könnte, konnte der Senat hierauf keine sichere Überzeugung vom Zugang des Einkommensteuerbescheides stützen. Es liegt noch keine Entscheidung des BFH dazu vor, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen sich ein Dritter auf die fehlende Bekanntgabe eines Steuerbescheides berufen kann.

Der Sachverhalt:
Die Klägerin ist eine Stiftung und Gesamtrechtsnachfolgerin der Steuerpflichtigen. Im August 2016 hatte die Steuerpflichtige einer Steuerberatungsgesellschaft – dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin – schriftlich eine Vollmacht zur Vertretung in Steuersachen erteilt, die auch eine Bekanntgabevollmacht zur Entgegennahme von Steuerbescheiden enthielt. Im September 2016 übermittelte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin diese Vollmacht an das Finanzamt. Er prognostizierte zudem der Steuerpflichtigen für den Einkommensteuerbescheid 2016 eine Gesamterstattung von 281,67 €. Die tatsächliche Erstattung betrug allerdings (nur) 178,62 € (rd. 63 %).

Im März 2020 teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin dem Finanzamt mit, dass die Steuerpflichtige verstorben sei. Bei der Auflösung des Haushalts seien Unterlagen/Belege gefunden worden, die für die Einkommensteuererklärung für 2016 noch relevant seien. Auf Nachfrage teilte die Steuerbehörde mit, dass der Einkommensteuerbescheid für 2016 im Jahr 2017 an die Steuerpflichtige bekannt gegeben worden sei. Hierauf erwiderte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, dass dieser Bescheid an ihn – als Steuerberater – hätte bekannt gegeben werden müssen. Der Einkommensteuerbescheid für 2016 sei in den Unterlagen der Steuerpflichtigen nicht enthalten.

Mit Schreiben vom 17.3.2020 übermittelte das Finanzamt dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin eine Abschrift des an die Steuerpflichtige adressierten Einkommensteuerbescheides 2016 vom 23.10.2017. Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 31.3.2020 Einspruch ein. Zur Begründung bestritt er den Zugang des Bescheides. Das Finanzamt war im Einspruchsverfahren der Auffassung, dass der Einspruch nicht innerhalb der Einspruchsfrist eingegangen sei. Der Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 23.10.2017 gelte aufgrund der gesetzlichen Zugangsfiktion als am 26.10.2017 bekannt gegeben. Demzufolge habe die Einspruchsfrist am 27.11.2017 geendet.

Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage statt. Allerdings wurde die Revision zum BFH zugelassen.

Die Gründe:
Der Bescheid für 2016 über Einkommensteuer vom 23.10.2017 war wegen fehlender Bekanntgabe unwirksam (§ 41 Abs. 1 FGO). Den Nachweis des tatsächlichen Zugangs hatte das Finanzamt nicht erbracht.

Hier fand die gem. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO geltende Zugangsfiktion – mit der Folge, dass der Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 23.10.2017 als am 26.10.2017 bekannt gegeben galt – keine Anwendung. Der Senat war der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin – im hier zu entscheidenden Einzelfall – die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erfolgreich erschüttert und Zweifel am Zugang geweckt hatte. Den ihm hiernach obliegenden Beweis für den tatsächlichen Zugang des Einkommensteuerbescheids für 2016 konnte das Finanzamt nicht erbringen. Der Senat konnte jedenfalls nicht die Überzeugung gewinnen, dass dieser Bescheid der Steuerpflichtigen tatsächlich zugegangen war.

Dass der Senat die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als erschüttert ansieht und Zweifel am Zugang des streitgegenständlichen Bescheids hat, folgte zunächst daraus, dass der Steuerpflichtigen hinsichtlich der Einkommensteuerfestsetzung eine höhere als die tatsächlich erfolgte Erstattung prognostiziert worden war. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hatte der Steuerpflichtigen eine Erstattung i.H.v. 281,67 € in Aussicht gestellt. Die tatsächliche Erstattung betrug allerdings (nur) 178,62 €. Wäre der Bescheid bekanntgegeben worden, so wäre zu erwarten gewesen, dass die Steuerpflichtige Einspruch einlegt oder jedenfalls Kontakt zur Steuerbehörde oder dem Prozessbevollmächtigten aufgenommen hätte.

Der Senat war nicht der vollen Überzeugung, dass der Einkommensteuerbescheid für 2016 der Steuerpflichtigen tatsächlich zugegangen war. Allein die ordnungsgemäße Absendung des Bescheides durch das Finanzamt am 23.10.2017 konnte nicht zur Überzeugung des Senats vom tatsächlichen Zugang führen. Soweit die kurz nach dem Versand des Bescheides erfolgte Überweisung des Erstattungsbetrags als Indiz für den tatsächlichen Zugang des Einkommensteuerbescheides 2016 dienen könnte, konnte der Senat hierauf keine sichere Überzeugung vom Zugang des Einkommensteuerbescheides stützen.

Die Zulassung der Revision rechtfertigte sich aus § 115 Abs. 2 FGO. Es liegt noch keine Entscheidung des BFH dazu vor, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen sich ein Dritter auf die fehlende Bekanntgabe eines Steuerbescheides berufen kann.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.06.2024 14:11
Quelle: Justiz NRW

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